Extremer geht es nicht – Armut und Reichtum in Indien
Indien belegt nach den USA und China Platz drei im Ranking der Länder mit den meisten Dollar-Milliardären. Gleichzeitig gibt es in Indien, in absoluten Zahlen gemessen, weltweit immer noch die meisten Menschen, die unterhalb der internationalen Armutsgrenze leben – ein Erbe der Ausbeutungen der Kolonialzeit.
Text: Lindner, Walter J.
Extremer geht es nicht – Armut und Reichtum in Indien
Indien belegt nach den USA und China Platz drei im Ranking der Länder mit den meisten Dollar-Milliardären. Gleichzeitig gibt es in Indien, in absoluten Zahlen gemessen, weltweit immer noch die meisten Menschen, die unterhalb der internationalen Armutsgrenze leben – ein Erbe der Ausbeutungen der Kolonialzeit.
Text: Lindner, Walter J.
Bei einem meiner ersten Besuche in Mumbai als Botschafter mache ich mich nach einem Gang durch Dharavi, mit etwa einer Million Einwohnern einer der weltgrößten Slums, auf den Weg zum deutschen Generalkonsulat am Nariman Point. Es ist ein windiger, aber sonniger Vormonsun-Tag im Juni 2019. Wellen schlagen bisweilen über das Ufer, Pärchen flanieren entlang des ikonischen Marine Drive, auch Queen’s Necklace genannt. Eisverkäufer und Touristen geben den perfekten Vordergrund für den bald einsetzenden, häufig spektakulären Sonnenuntergang. Der Konsulatsfahrer hält an einer roten Ampel, neben uns ein Geräusch wie bei einem Boxenstopp am Nürburgring. Bewundernd und mit Expertenstolz bemerkt mein Fahrer: »Zwei Ferrari!« Dann korrigiert er sich: »Ein Ferrari, ein Lamborghini.« In der Tat, zwei rote, super-luxuriöse Sportwagen lassen die Motoren im Leerlauf brummen, die Fahrer – wie in einem Belmondo-Film der 1970er-Jahre mit Sonnenbrillen – unterhalten sich durchs offene Fenster, lachen und sind schon beim Umschalten auf Grün auf und davon in Richtung Malabar Hill. Passanten schauen den zwei roten Punkten nach. Die Mienen spiegeln Staunen und bei manchen auch Ungläubigkeit, vielleicht denken sie, das Ganze sei ein Filmset.
Auch die weiteren Kommentare meines Fahrers zeugen von Bewunderung und Anerkennung, keine Spur von Neid, obwohl er und 99,9 Prozent der Inder sicher niemals ein solches Fahrzeug ihr Eigen nennen werden. Und auch die Diskrepanz zwischen dem eben noch gesehenen Slum und den jungen Superreichen macht ihn nicht stutzig. Die Frage nach der Herkunft des Geldes stellt sich für ihn nicht. Da hat jemand riesigen Reichtum, zeigt ihn ostentativ – und das findet er völlig in Ordnung.
Ich google noch im Auto den Markt für Luxusautos in Indien. Er wird gegenwärtig auf mehr als eine Milliarde US-Dollar geschätzt. Alles ist hier erhältlich und findet seine Käufer: Lamborghini, Ferrari, Bugatti – neben den einschlägigen deutschen Marken wie Porsche, BMW, Mercedes und Audi. Der Markt an Luxusfahrzeugen – auch und besonders solchen mit Elektroantrieb – scheint, nach einer weltweiten Delle während der Pan-demie, in Indien permanent zu wachsen, insbesondere in Mumbai. Auch bei Modellen, deren Preise mit Importsteuern bei fast einer Million Dollar liegen. In den Stadtvierteln Bandra, Worli, Colaba und Malabar Hill gibt es nicht wenige solcher ultimativen Prestigefahrzeuge. Bollywood und seine Unterhaltungsindustrie, schwerreiche Unternehmer und Industrielle, Großinvestoren und der ein oder andere Politiker (oder dessen Sohn oder Tochter) dürft en zu den Käufern zählen. Als sich der indische Milliardär Mukesh Ambani 2010 ein Hochhaus bauen ließ – das teuerste der Welt – und dabei allein sieben Etagen für seine Luxusautos einplante, schaffte es diese Meldung sogar bis in die Süddeutsche Zeitung.
Ja, auch das ist Indien. Das Indien der Superreichen, in dem das reichste 1 Prozent über 40 Prozent des nationalen Vermögens verfügt. Es ist ein Indien, in dem laut einer Forbes-Studie von 2023 immerhin 169 Dollar-Milliardäre leben und das damit nach den USA und China an dritter Stelle liegt. Da sind die mehr als 800 000 Millionäre noch nicht dabei, die Indien auf Rang 15 der Millionärszahl weltweit katapultieren.
Was mir immer wieder auffällt: Reichtum und Luxus werden nicht etwa dezent heruntergespielt oder im Hintergrund versteckt, sondern das Gegenteil ist der Fall: Wer viel hat, zeigt es auch. Mit Stolz. Das mag an der ständigen sozialen Konkurrenzsituation liegen, an den extrem hierarchischen Gesellschaftsstrukturen, an den allen vertrauten Geschichten über Fürsten und Maharadschas, an den Bollywood-Seifenopern, an Traditionen und am Community-Wesen.
Wie passen diese extremen Gegensätze zusammen? Wie hält ein Land, eine Gesellschaft solche Widersprüche aus? Wieso gibt es keinen Che Guevara oder mehr Sozialreformer wie Bhimrao Ramji Ambedkar, den 1956 verstorbenen Rechtsanwalt, der energisch gegen soziale Diskriminierung kämpfte? Hält das Community- und Kastenwesen tatsächlich alle widerspruchslos in ihrer sozialen Stellung, weist ihnen den gesellschaftlichen Platz unwiderruflich zu? Genügt in dieser festgelegten Hierarchie den Ärmsten schon die Aussicht, wenigstens nicht so arm wie die noch Ärmeren zu sein? Oder die Hoffnung, aus dem Elend irgendwann wenigstens ein kleines Stück mehr als der Nachbar zu entkommen, wenn schon nicht vom sprichwörtlichen »zero to hero«? Oder sind diese Extreme wirklich nur die äußersten Eckpunkte, während die Mehrheit weniger Armut, mehr soziale Gerechtigkeit und eine Aussicht auf eine bessere Zukunft erfährt? Gibt es eine größer werdende Mittelschicht, die zumindest die ex-treme Armut hinter sich lässt? Wird die Schere zwischen Arm und Reich gesamtgesellschaftlich kleiner?
Was sagen die Zahlen und Statistiken? In Indien leben, in absoluten Zahlen gemessen, weltweit immer noch die meisten Menschen in Armut. Es sind etwa 230 Millionen, die mit 2,15 Dollar oder weniger pro Tag auskommen müssen. Das ist seit September 2022 die internationale Armutsgrenze. Sie beschreibt das finanzielle Minimum, das ein Mensch zum Über-leben braucht. 230 Millionen menschenunwürdige Schicksale.
Da fällt es schwer, den Blick dem Fortschritt zuzuwenden. Und doch: Prozentual hat sich die Situation immens verbessert. Auch wenn die Schätzungen ungenau und nicht einheitlich sind – nicht nur Experten stellen fest, dass die Lage deutlich anders ist als noch vor wenigen Jahren. Nach dem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2023 sank der Anteil der Menschen, die in Indien in sogenannter multidimensionaler Armut leben, innerhalb von anderthalb Jahrzehnten von 55 auf etwas mehr als 16 Prozent. Multidimensional, das meint unzureichend versorgt hinsichtlich zwölf Indikatoren aus den Bereichen Gesundheit, Bildung, Hygiene, Ernährung und weiterer Aspekte des Lebensstandards. Damit ist es den indischen Regierungen in relativ kurzer Zeit gelungen, geschätzt 415 Millionen Menschen aus der extremen Armut zu holen. Was nicht heißt, dass die Zustände mit denen in der westlichen Welt vergleichbar wären. Anders gesagt: Wer in Indien arm ist, den trifft es unvergleichlich härter als in westlichen Ländern. Noch immer sind 15 Prozent der Bevölkerung unterernährt, ebenso viele haben keinen Zugang zu einer gebauten Toilette, fast 90 Prozent sind noch immer im informellen Sektor beschäftigt und haben somit von beruflicher Seite keinerlei Zugang zu sozialen Sicherungssystemen gegen Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Trotzdem: Der Armutsbrennpunkt der Welt hat sich damit von Südasien ins subsaharische Afrika verlagert. Indien ist zumindest auf dem Sprung in eine menschenwürdigere Welt und kann damit für andere Länder des Globalen Südens zum Vorbild werden.
Wer aus Europa herablassend auf die Armut in Indien blickt, muss wissen: Teile des Subkontinents – vor allem die nordindischen Flussebenen – waren in früheren Jahrhunderten ein sagenumwoben reiches Land, mit jahrtausendealter Hochkultur, Königreichen, Palästen und Höfen voll Glanz und Pracht, verschwenderischer Fülle von Gold, Juwelen und kostbaren Textilien. Und wenn auch nur wenige den ganzen Reichtum genos-sen, so hatten doch alle dank der fruchtbaren Flusstäler ausreichende und gute Nahrung. Nicht umsonst zog es arabische und persische Herrscher auf ihren Eroberungszügen seit dem 8. Jahrhundert immer wieder aus dem Hindukusch hinab in die indische Ebene. Die Eindringlinge plünderten und zerstörten, dann zogen sie mit der Beute ihrer Raubzüge in endlosen, mit Schätzen beladenen Karawanen davon. Auch für die Briten war Indien die größte Perle des weltumspannenden Empire. Die Kolonialzeit allerdings, beginnend mit den Ausbeutungen der East India Company, war für die indische Wirtschaft dann eine veritable Katastrophe. Sie reduzierte das Land zu einem reinen und schlecht bezahlten Rohstofflieferanten, vernichtete die einheimische Industrie, brachte Lebensmittelbestände und Geld-/Goldreserven auf null und verordnete ein knebelndes Steuersystem, das jedes Unternehmertum im Keim erstickte. Die Armut ist ein Erbe der Kolonialzeit.
So kam es zur Massenarmut, die spätestens ab den 1920er-Jahren furchtbare Folgen hatte. Dass Indien nach der Unabhängigkeit zuerst wenigstens schlimme Hungersnöte vermeiden konnte und seit den 1990er-Jahren – trotz der enormen Herausforderungen durch das Bevölkerungswachstum – ein rasantes Wirtschaftswachstum erzielte und dabei politisch eine stabile Demokratie blieb, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Der Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch des Autors „Der alte Westen und der neue Süden. Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist“
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